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Dieses lange Fragment zeigt, dass Opus Dei nicht reformierbar ist und eine eigene Wirklichkeit kreiert hat. Würde der nächste katholische Papst Opus Dei auflösen, so stünden ca. 80.000 Menschen völlig unvorbereitet auf der Straße einer Wirklichkeit gegenüber, die sie so lange geleugnet haben. DSDZ [der Schreiber dieser Zeilen] überlegt, inwieweit diese Analyse von Opus Dei auf FSSPX anzuwenden wäre. Bei der Piusbruderschaft finden wir ebenfalls die innere Zerrissenheit – in der Kirche und doch außerhalb – die Wir-gegen-die-Mentalität, den Absolutheitsanspruch, das elitäre Denken. Deswegen ist FSSPX dem Opus Dei so spinnefeind, weil sie dieselbe Klientel bedienen. Aber lesen Sie und urteilen Sie selbst.
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Diese Art, wortreich zu lügen – den Zwang abzustreiten, sich als „normale Laien“ zu bezeichnen etc. – kennen wir in ähnlicher Form auch bei den Politikern, wenn sie lügen. Das Problem liegt im System; die chronische Unwahrheit ist keine Notlüge mehr, keine Ausflucht, sie ist eine Pathologie.
Wenn jemand schon so viel lügt, zeigt er ernsthafte Probleme mit den anderen zu kommunizieren, und vielleicht fasst er die Wirklichkeit als Feind und als Betrug auf; vor ihr muss er sich in Acht nehmen, sie muss er bekämpfen (Escrivá zog die Verteidigung dem Angriff vor: Sei nicht so feige, „mutig“ zu sein: flieh! sagte er im „Weg“, und schwerlich bezog er sich damit nur auf die Sexualität. Escrivá lebte im Kampf mit der Wirklichkeit; deshalb musste er sich ständig um Wirksamkeit bemühen, die Realität besiegen, die ihm immer wieder entgegentrat, die sich gegen ihn verschwor. Daher seine Paradoxien: Er sprach von göttlicher Lausbüberei, nannte das Schändliche heilig, den Feigling mutig usw. Das ist reizvoll und originell; wenn es zu einer Maxime des Handelns wird, ist es das nicht mehr).
Und was ist mit seinen paranoiden Wahnvorstellungen? „Sie lieben uns nicht, sie spucken auf uns, sie verfolgen uns“ etc. und uns alle nahm er ein er mit diesen Worten: „Armer Vater, wie sehr sie ihn verfolgen“ – ja, die Wahnvorstellungen. Gewiss hatte er Feinde, wie jede bedeutende Persönlichkeit, aber diese Wahnvorstellungen und diese Verfolgungsmystik, mit der er seine Wirklichkeit einfärbte, sind etwas anderes. Er machte aus sich etwas ganz Besonderes, so wie seine Gründung, die durch seine Vision entstanden waren.
„Ihr wisst nicht, wie viele Jahre lang wir Verfolgung erleiden mussten, auch von guten Menschen. Ihr wisst es nicht, weil der Vater verboten hat, dass man über diese Dinge redet oder schreibt. Es war eine Verfolgung, wie sie Jesus von den Hohepriestern und den Anführern des Volkes erleiden musste: Verleumdungen, Lügen, Hinterhältigkeiten, Beleidigungen, in der Presse, in der Mundpropaganda.. wir sind zum Gespött der Welt geworden. Alle meinten das Recht zu haben, uns anzuspucken.“ (Escrivá, Betrachtungen, II, S. 381)
Gleichwohl nahm er keinerlei Rücksicht, wenn jemand das gleiche Recht für sich in Anspruch nahm; ganz im Gegenteil, hier konnte er sich ziemlich ungnädig zeigen:
„Wenn sich jemand nicht vollständig hingegeben hat, verstrickt sich sein Verstand bei der erstbesten Schwierigkeit, und es kostet ihn Mühe zu verstehen, was ein Wesen von zehn Jahren kapiert, und er kommt auf den Gedanken, dass er uns nicht versteht. Sprich, mein Sohn, und du wirst sehen, dass sie dich sehr wohl verstehen. Es liegt lediglich an dir, an den augenblicklichen Umständen, dass dein Stolz nicht einsehen will, dass du irgendwie begrenzt bist und deshalb nicht willst, dass man dich versteht? (Escrivá, Crónica, 1972, S. 637.639).
„Wenn irgendjemand im Werk Kummer oder Traurigkeit erlebt, so ist es eine eigene Schuld, denn die Mittel, in Freude zu dienen, sind allen zugänglich“ (Escrivá, Crónica, 1973. S. 644).
„Zu 99% sind die Konflikte, die uns beschäftigen, unsere Einbildungen: Es sind Schneebälle, die wir wachsen lassen, vernünftige Sinnlosigkeiten, ein Betrug, um unsere Begehrlichkeiten zu verstecken. Und wisst ihr, was die hauptsächliche Ursache dieser Konflikte ist? Der Mangel an Demut: der Hochmut. Sie lieben mich nicht, sie kümmern sich nicht um mich, sie nehmen mein Talent nicht zur Kenntnis, sie merken nicht, was ich bin und wert bin. Und so habt ihr eine Seele, die einen wunderbaren Frieden haben könnte, die in Ruhe und in unermesslicher Freude leben könnte, und die sich aus Stolz, weil sie leuchten will, weil sie die Aufmerksamkeit auf sich ziehen möchte, weil sie eine besondere Behandlung möchte, unglücklich und unfruchtbar macht. Denn eine Seele, die diese Wege geht, wird, wenn sie das Herz nicht öffnet und sich nicht demütigt, nicht nur selbst leiden, sondern auch die anderen leiden lassen und auf keine Weise vorankommen können.“ (Escrivá, Betrachtungen III, S. 661)
Escrivá schuf sich seine eigene Realität, nichts anderes (Ich frage mich: War die Vision des 2. Oktober etwas anderes als eine psychotische Episode?). Und er schwor uns darauf ein, das zu sehen, was er sah, an seine Realität zu glauben, in der wir keine eigenen Erfahrungen machen konnten. Auch wenn wir nicht psychotisch waren, mussten wir so handeln: Wir leugneten, was offenkundig war. Sollten wir uns daher wundern, dass es so viele mentale Defekte im Opus Dei gibt? Die Wirklichkeit konsequent zu leugnen reicht doch schon aus, um krank zu werden. Wir schämten uns zwar, öffentlich über das Opus Dei zu sprechen, aber im privaten Diskurs die Wirklichkeit zu leugnen, machte uns keinerlei Probleme.
Escrivá leugnete, dass wir Ordensleute waren, und behauptete, dass wir Laien seien. Tatsächlich waren wir eine Art Mix aus Ordensleuten und geweihten Laien, aber seiner Interpretation nach waren wir Laien wie jeder andere. Es war keine Frage der Taktik, dass er die Realität leugnete; Escrivá hatte generell schwer wiegende Probleme, mit der Realität zurechtzukommen (auch wenn ihn das nicht hinderte, auf seine Weise sehr erfolgreich zu sein, denn er war, wie aus vielen Zeugnissen hervorgeht, ein Meister der Verführung).
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„Wir müssen durch den Verstand und das Herz des Vaters gehen“, wenn wir mit Christus vereint sein wollen, versicherte Escrivá rundweg. Und das ist auch klar: Die einzige Art und Weise, das Opus Dei psychisch aufzunehmen, ist, seine einzige und wahre Realität aufzunehmen. Vielleicht ist das alles nur Zufall und ich irre mich mit meiner Analyse, aber es gibt allzu viele zusammenpassende Puzzleteile, die Escrivá im Lauf seines Lebens hinterlassen hatte.
Wer betrügt und das auch selber weiß, richtet einen Schaden an, aber er schafft keine Pathologie. Er begibt sich in eine fiktionale Situation und verlässt sie wieder; er spielt eine Person, um seinen Vorteil wahrzunehmen, und dann kehrt er wieder in seine natürliche Existenz zurück.
Umgekehrt lebt der Psychopath in seiner eigenen Welt; er geht hinaus, um seine Natürlichkeit zu beweisen, und kehrt dann wieder heim in sein Schneckenhaus. So entdeckte er seine Fähigkeit, „natürlich zu spielen“, eine Kunst, die er zu seinem eigenen Vorteil ausübte, während er die anderen prellte (er war nämlich ein Meister darin, Vertrauen zu erwecken).
Das Opus Dei ist diese „Innenwelt“ Escrivás, in die sich jeder einzelne von uns begeben musste; es war das Gegenteil von dem, was behauptet wurde, dass nämlich „niemand von seinem Platz entfernt wird“. Statt sich zur Welt hin zu öffnen, erreichte es Escrivá, sich mit dem Notwendigen zu versorgen, um nicht hinausgehen zu müssen.
Escrivá schuf diese gespaltene Wirklichkeit, weil er bereits in ihr lebte, und indem er eine Institution erfand, formte er eine „passende“ – eine zerrüttete – Umwelt, in der er „ruhig“ leben konnte, und in der die anderen – „die, die ihn nicht verstanden“ – die Verrückten waren. Indem wir uns also mit seiner Verrücktheit solidarisch erklärten, machten wir uns mit ihm und für ihn verrückt. Da wir selber aber keine Pathologie hatten, konnten wir zur Normalität zurückkehren, wenn auch mit großen Anstrengungen und unter Mühen.
Berufung zu haben, bedeutete in Wahrheit, eine Pathologie zu haben; von daher rühren die psychischen Schäden, die eine „Berufung“ zum Opus Dei mit sich bringt, der Missbrauch von Psychopharmaka, um unsere „falsche“ Sicht der Dinge zu korrigieren, wie NVLP erzählt. Sein Zeugnis ist ein gültiger Beweis für den psychotischen Charakter des Opus Dei: NVLP ging nach Villa Tevere [Red. römischer Sitz von Opus Dei], um dort ernsthafte Probleme zu besprechen, die er in seiner Region erkannt hatte, und die Direktoren des Opus Dei weigerten sich, diese Probleme zur Kenntnis zu nehmen, sie wandten der Realität den Rücken zu und behandelten NVLP, als wäre er der Psychopath, der neben der Wirklichkeit steht, und nicht das Opus Dei. Wenn noch Zweifel offen bleiben, behandeln sie sie mit Psychopharmaka. Auf diese Weise bestätigten die Vorgesetzten, dass in Villa Tevere ein psychotisches Ambiente herrscht.
Am dritten Tag merkte ich dann, dass es nicht viel Interesse daran gab, mit mir zu reden. Wir sprachen über Fußball, gingen spazieren, weg, an die frische Luft, zur Erholung… Dass ich am anderen Ende der Welt alles liegen und stehen ließ und nach Rom kam, nur um spazieren zu gehen und zu hören, dass die Sonnenuntergänge in Rom bezaubernd sind, erschien mir einerseits romantisch, andererseits als ein Betrug. Nachdem ich einige Anspielungen fallen gelassen hatte, um herauszubekommen, wann wir endlich reden sollten, und mein Gesprächspartner nicht darauf einging, fragte ich ihn direkt: „Reden wir über das wovon ich geschrieben habe?“ Und er sagte: „Nein, über das, was du geschrieben hast, werden wir nicht reden.“
Aus diesem Zeugnis ist deutlich abzuleiten, dass sich NVLP einen sehr starken Realitätsbezug bewahrt hat – mit dessen Hilfe er ja auch die Probleme innerhalb des Opus Dei ausfindig machen konnte – und er half ihm sehen, dass sich eine strukturelle Leugnung der Realität von der Villa Tevere aus verbreitete, die alle anderen Probleme nach sich zog.
Die Berufung verändert unseren Blick auf die Wirklichkeit und hindert uns daran, das Pathologische am Opus Dei und seinem Gründer wahrzunehmen. Sie hindert uns daran, rasch zur Wirklichkeit zurückzukommen; alles wird zu einem endlosen Theaterspiel, das es sehr schwierig macht, das Opus Dei zu verlassen. Es verwundert daher auch nicht, dass unsere Existenzform als „gewöhnliche Christen“ ebenfalls nur eine Zurschaustellung gewesen ist und keine Wirklichkeit. Aber zum Glück ließ uns unser Gewissen ahnen, dass „unsere Tage gezählt“ seien und dass wir eines Tages in die Realität zurückkehren würden.
Escrivá musste seine Umgebung verwirren, um selbst ein „normales Leben“ führen zu können, wie es die innere Ordnung seines Geistes verlangte. Das ist das Dramatische. Es ist kein Zufall, dass er das Werk als „Boot“ verstand und die Welt rundherum als „Ozean“, der einem den Tod bringt, wenn man aussteigen möchte; dieses Angst machende Bild hatte Escrivá in seinem Inneren, und er musste es nach außen projizieren und gegen die anderen richten.
Sein Narzissmus, seine Verfluchungen der Abtrünnigen, die Abgründe, in die er die verstieß, die bei einem fremden Priester zu beichten wagten, die Ungnade und der Widerwillen gegenüber denen, die das Opus Dei verließen, dass er die, die gingen, in der absoluten Mittellosigkeit zurückließ und keinen Finger rührte, um ihnen zu helfen, die Mitleidlosigkeit gegenüber denen, die litten [„sie sollen nur weinen, dann müssen sie weniger pinkeln“], all das zeigt den Terror, den Escrivá ausübte, weil er ihn selbst auf seiner Seele lasten fühlte, den er ausstrahlte und institutionalisierte, als ob er damit die Dämonen in seinem Inneren bannen wollte.
Das Opus Dei braucht, mehr noch als ein Eingreifen des Vatikans, eine tiefe, ihre Struktur erfassende psychologische und psychiatrische Hilfe. Mehr noch: Jede Intervention des Vatikans wäre zwecklos, wenn diese pathologischen Probleme dabei unberücksichtigt blieben. Der Vatikan würde auf der religiösen Ebene agieren, das Opus Dei in seiner anderen Welt. Die Eigenarten des Opus Dei scheinen viel eher in das Gebiet der Persönlichkeitsstörung zu gehören als in das religiöser Probleme.
Dass die Institution selbst prinzipiell niemals einen Fehler macht, ist ebenso auf bemerkenswerte Weise krankhaft; das Opus Dei wirft Menschen ohne die geringsten Skrupel hinaus, indem es sich auf Escrivás „Theologie des Bootes“ beruft, bei der sein Urheber völlig rücksichtslos Flüche und Verdammungsurteile ausstieß.
Es täte Not, dass Spezialisten, Psychologen oder Psychiater, einmal das Seelenleben Escrivá durchleuchten, sein Verhalten und seine Werke. Nur so lässt sich ein Konzept durchführen, eine Art Feldforschung, und zunächst einmal provisorische Beobachtungen durchführen.
Das Wesentliche, das an dem bisher Gezeigten klar geworden sein dürfte, ist, dass Escrivá in seinen Schriften und in seinen Gedanken, in den Metaphern, die er wählte, in den Entscheidungen, die er bei der Leitung des Werkes fällte, Anzeichen einer starken Pathologie gab, die seine Person beherrschte und die sich der Organisation mitteilte, die er gegründet hat.
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Man könnte als Schlussfolgerung zu folgender Hypothese kommen. Die innere Welt Escrivás war zerrissen, und ebenso zerrissen präsentiert sich das Opus Dei, seine Bild und Gleichnis. Er musste Kohärenz vortäuschen – die viel beschworene „Einheit -, damit er sich den anderen gleich fühlen konnte, und deshalb erschuf er sich seine eigene Welt, nach den Parametern seines Geistes, damit er sich innerlich eins fühlen konnte.
Für ihn war das Opus Dei kohärent, weil es genauso zersplittert war wie sein Geist; Gründer und Werk passen in vollkommener Harmonie zusammen. Von außen aber springen die Widersprüche ins Auge. Das konnte – oder wollte – Escrivá nicht sehen, weil es ihn beklemmt, in Verzweiflung stürzte; aber durch die „Brille“ des Opus Dei“ begann er eine andere Wirklichkeit wahrzunehmen, eine, die er sehen wollte.
Escrivá musste sich tatsächlich sehr anstrengen, eine Kohärenz vorzutäuschen, die tatsächlich nicht existiert hat, denn sein Leben wie seine Lehre bestanden nur aus Bruchstücken. Es galt erst alles zusammenzustückeln, und die Bruchstücke ergaben nicht mehr als eine Collage.
Er konnte manche Situationen beschönigen, wiederholen oder vortäuschen; was er nicht herstellen konnte, war die innere Einheit. Deshalb ist es schwer, ein stimmiges Bild des Opus Dei zu entwerfen. Es ist ein zusammengeschustertes Flechtwerk, das nur durch den „Willen des Vaters“, also völlige Willkür, zusammengeklammert wird. Dasselbe gilt für den Brief des Prälaten vom Oktober 2011; die Spiritualität des „Werkes“ ist Flickwerk, man kann das eine oder das andere behaupten, je nachdem, welche Auflage des Katechismus man zitiert. Die „endgültigen Lösungen“ erweisen sich dann immer noch als vorläufig, und der Widerspruch ist das, was dem Opus Dei den Zusammenhalt gibt.
Wer nicht unter einer Pathologie leidet, kann vielleicht einmal, als Notlüge, versuchen als ein anderer dazustehen, als er ist; er hört (in diesem Moment) auf, er selbst zu sein, und handelt, als wäre er ein anderer (aber dann wird er wieder er selbst, und zwar möglichst schnell). Escrivá musste beständig vortäuschen, „ein anderer“ zu sein, denn in seinem Inneren fühlte er, dass er anders war als die anderen, und später gab er sich dann ein anderes Image nach außen, als wäre er den anderen haushoch überlegen, und sie müssten als Planeten nur noch um ihn als Sonne kreisen, „wenn sie vereint mit Christus sein wollten“ – ein Ausdruck von Größenwahn. Um akzeptiert zu werden, musste er schauspielern, und das zeigt, dass er an die äußere Welt „nicht angepasst war“.
„Die Lösung“ – die Rechtsfigur der Personalprälatur war eine ebensolche Lösung, der Ausweg aus einem Anpassungsfehler, sie schuf und isolierte eine eigene Welt und isolierte sie so, dass sie die, die drin waren, denken ließ, dass die anderen draußen lügen; wer in die Welt Escrivás eintauchte, musste im Umgang mit der Außenwelt zu täuschen lernen. Daher hatte man das Gefühl, in zwei Welten zu leben: interne Zone und externe Zone. Daher kamen Scham und Scheu – weil man nicht dazugehören durfte.
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Das Opus Dei ist von Natur aus schizophren. Und seine Normalität besteht darin, in Widersprüchen und disparaten Teilen aufzugehen.
Diese Dualität zeigt sich überdeutlich in den Texten Escrivás; sie sind nicht homogen, nicht nur nicht perfekt, sondern zusammenhanglos, widersprüchlich zwischen Theorie und Praxis, in dieser inszenierten Heiligkeit, die sich allerdings als Fragment zeigt, niemals kohärent; und all das endete in einem betrügerischen Heiligsprechungsprozess. Das macht seine Verrücktheit großartig und zugleich auf dramatische Weise beklemmend.
Escrivá spielte seine „Tugendfragmente“ mit solcher Virtuosität vor, dass man ihm sogar die Heiligkeit abnahm. Und zweifellos war es genau das: nicht zusammenpassende Bruchstücke, offenkundige Vollkommenheiten, bewundernswerte Sätze, alles perfekt in sich, aber zusammen genommen eine Schimäre.
Das zerbrochene Gefäß, das mit Klammern zusammengeflickt worden ist: welche Symbolik liegt darin! Es ist ein Selbstporträt Escrivás und seines Opus Dei.
Es ist ein weiteres Symbol, das Escrivá ausgewählt hat und das das Innere seiner Person so trefflich beschreibt. Die Bilder, die Escrivá auswählt, um sich mit ihnen zu identifizieren, sind höchst verräterisch, nicht nur isoliert, auch im Kontext. In diesem zerbrochenen Gefäß sah sich Escrivá selbst, und er wollte, dass auch wir uns als innerlich gebrochen wahrnehmen, zerstört, als Bruchstücke, die mit Klammern zusammengefügt werden müssen. Ich zweifle sehr, ob es irgendjemanden im Opus Dei gibt, der sich ständig als ein solches Fragment fühlt oder gefühlt hat. (Die Klammern sind nämlich für immer, ohne sie kann die Vase nicht „überleben“.) Nur ausnahmsweise führte der innere Vorgang der Selbstauslöschung, des Brandopfers, des „Holocausts“ des eigenen Selbst dazu, sich als zerstört wahrzunehmen; und in einer solchen Situation helfen auch keine Klammern mehr, man ist nur mehr zerstückelt.
Wer einen Knochenbruch erlitten hat, bekommt ebenfalls Klammern gesetzt. Manchmal werden sie wieder entfernt, manchmal bleiben sie. Wenn man aber einmal aus dem Opus Dei draußen ist, führt der Heilungsprozess zur Vernarbung, die Wundränder fügen sich zusammen, und man braucht keine Drähte und keine Krücken mehr; die inneren Brüche verheilen, außer der Schaden geht ganz tief, der Bruch ist besonders kompliziert. So wollte Escrivá, dass wir uns fühlen, und dass wir für immer in dieser Welt des Opus Dei bleiben, gebunden an das Opus Dei, in dem er selbst lebte und leben musste.
Ebenso kann sich jemand, der Verbrechen oder schlimme Fehler begangen hat, innerlich zerbrochen fühlen – bei der Mehrzahl der Menschen wird das aber wohl nicht der Fall sein. Sie können Wunden davontragen, Narben, aber innerlich zerbrochen zu sein ist doch etwas ganz anderes. Und diese Selbstidentifikation mit einem Gegenstand mag für den Moment, als Geistesblitz im Gespräch hilfreich sein, aber wohl nicht dafür taugen, die Tiefe der eigenen Person darzustellen. Eine Person ist kein Gegenstand. Und dieses Reden, dass man zum „Instrument“ wird, mag eine gewisse Tradition in der katholischen Spiritualität haben, in den Händen Escrivás hat sie jedenfalls verheerende Auswirkungen. Wer unter einer schweren strukturellen Pathologie leidet, findet keinen Ausgleich, und Escrivá wollte, dass wir uns so fühlten: dass wir niemals zu uns selber finden, dass wir immer die Klammern des Opus Dei brauchen. Und wenn wir gehen wollten, erwartete uns draußen, in dem unendlichen Meer der Welt, der Tod (denn er sagte uns das nicht wie eine Oma, mit warnend erhobenem Zeigefinger, sondern nachtragend, rachsüchtig, wie eine Verfluchung. Sehr aufschlussreich!).
Es hält der Analyse durch einen Psychologen nicht stand. Einfach gesagt, Escrivá fühlte sich eingesperrt, und so wollte er uns in seinem Opus Dei internieren.
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Wie sah er das Opus Dei? Indem er Zettel, Fragmente sortierte. Hat er sie mit Eisenklammern zusammengesetzt? So entstand das Opus Dei – er reflektierte über seine Pathologie; es war keine Eingebung von oben, sondern er legte Zettelchen zusammen. Es entstand aus einer Idee; während er seine Aufzeichnungen zusammenfügte, schuf er eine Institution, die seiner Innenwelt entsprach.
Escrivá bestand so sehr auf der „Einheit im Werk“, weil er selbst keine Persönlichkeit aus einem Guss war. Wir mussten alle eng mit ihm vereint sein, weil er mit sich nicht einig war. Von daher kommt die Besessenheit, alles (was draußen ist) durch die „Institution“ zu kontrollieren, um Kohärenz zu schaffen: Denn drinnen, in seinem Inneren, gab es keine Einheit, sondern nur Bruchstücke.
Anscheinend waren wir alle miteinander eine Art Klammer für ihn, denn in seinem Inneren krampfte es sich jedes Mal zusammen, wenn jemand sich losmachen, das Opus Dei verlassen wollte. Er betrachtete diese „Abtrünnigen“ als abgesprungene Klammern, dazu bestimmt, von den Leuten zertreten zu werden, und er bezeichnete sie als trockene Reben, die verbrannt werden mussten. Das sind starke, ja grauenhafte Bilder, die aus dem Bauch kamen, aus seinem tiefsten Inneren.
„Die Rebe, die mit dem Weinstock nicht mehr verbunden ist, lebt nicht länger, sondern ist ein trockenes Stück Holz, das nur mehr ins Feuer oder den Tieren vorgeworfen werden kann, damit es von allen zertreten wird. Meine Kinder, bleibt eng verbunden mit dem Weinstock, klammert euch an Jesus Christus an, durch den Gehorsam, den ihr euren Direktoren erweist.“ (Escrivá, Betrachtungen IV, Nr. 354).
Der Weinstock, das ist Escrivá selbst, umso mehr, als er auf Jesus Christus verweist (das ist nur eine weitere Maske, hinter der er sich verbirgt, eine Ausrede oder eine Person, die er vorschiebt), denn wenn wir nicht durch seinen Kopf gehen, können wir nicht mit Christus vereint sein, hatte er vorher erklärt. Escrivá spielte Verstecken, er lebte im Verborgenen, das war sein Bestreben, und das ist auch die Struktur, die er seinem Opus Dei gegeben hat. Es ist mehr als Demut, denn die ist im Kontext des Opus Dei ein schief aufgesetztes Symbol.
„Seine Verhaltensweise hat er uns mit wenigen Worten zusammengefasst: ‚sich verbergen und verschwinden, damit nur Jesus im Licht steht‘“ (Escrivá, Betrachtungen V, S. 498)
Alles, was die „Einheit des Werkes“ zu gefährden schien, brachte ihn dazu, wie ein Verrückter herumzubrüllen; immer gelang es dann doch nicht, die Pathologie zu vertuschen, denn sie war seine wahre Natur. Das Zusammenfügen der Bruchstücke – darin bestand sein Wesen; die Perfektion war lediglich vorgetäuscht.
Es beeindruckt nachhaltig, ja, es macht Angst, wenn man weiß, dass das Bild, dass am Tag seiner Seligsprechung 1992 den Petersplatz schmückte, nach der Aussage der Direktoren (sie nannten das „Fragmente“) aus verschiedenen einzelnen Bildern „arrangiert“ worden war (Photoshop heißt das in der Zeit der elektronischen Datenverarbeitung), um ein vollkommeneres Bild zu schaffen.. Es ist dies der Archetyp, die Zusammenfassung eines synthetischen, symbolischen Lebens mit einer mit einem fragmentierten Innenleben. Ich denke, dass diejenigen, die dieses Bild zusammensetzten, seine Lehre vollkommen begriffen haben: Die Realität setzt sich aus disparaten Teilen zusammen, die nicht zusammengehören. Sie sind mit Gewalt zu einer „Einheit“ zusammengefügt, nach dem „Willen des Vaters“ Escrivá.
Niemand von euch ist allein, niemand ist ein isolierter Vers: Wir sind Verse desselben epischen, göttlichen Gedichts. Und jeder von uns, ihr wie ich, ist daran interessiert, dass diese Einheit, diese Harmonie nicht zerreißt (Escrivá, Betrachtungen III, S. 670).
Es ist zweifellos möglich, dass alle diese aus dem Zusammenhang gerissenen Zitate hier auf eine Weise zusammengefügt wurden, dass sie eine verstiegene Theorie rechtfertigen sollen. Das Problem ist aber, dass sich diese Theorie überdeutlich in der Wirklichkeit zeigt. Haben wir die Leiche des Opus Dei noch nicht beerdigt? Sein Gespenst, sein Schatten waren die Pathologie.
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