
Wie treffend Augustin Poulain SJ bemerkt, besteht die eigentliche Schwierigkeit bei spirituellen Texten in der Abgrenzung und Feststellung, welchen Zustand und welche Gebetsart der Schreiber eigentlich meint, da viele Autoren für denselben Zustand verschiedene Ausdrücke verwenden. Diese Problematik wird besonders, wie es der französische Jesuit vorbildlich heraus arbeitet, bei den fortgeschrittenen Gebetsstufen prekär. Wir wollen aber an dieser Stelle nicht seinen Ausführungen vorgreifen, die wir auf unserem Blog noch zu genüge vorstellen und kommentieren werden. Wir wollen vielmehr einen Grundriss der ersten beiden Gebetsstufen vorlegen, der an diejenigen gerichtet ist, die sich mit dieser Thematik vielleicht zum ersten Mal befassen.
Der Schreiber dieser Zeilen hatte das Glück schon im Alter von 16 Jahren das Buch „Saal der 1000 Türen: Briefe über das Gebet“ von Pater Henri Caffarel gelesen zu haben, einem französischen Priester, welcher die, der Erneuerung der christlichen Ehe gewidmete Bewegung, Équipes Notre-Dame ins Leben gerufen hat. Sowohl der Autor als auch die Bewegung durften in Deutschland völlig unbekannt sein und es ist nicht das erste Mal, dass die französische Kultur oder Spiritualität über Deutschland hinüber setzend gleich nach Polen kommt, ohne Deutschland in irgendeiner Weise berührt zu haben. Ohne an dieser Stelle auf die Gestalt des Henri Caffarels oder auf seine Bewegung näher eingehen zu wollen, können wir dieses Buch, das auch auf Deutsch erhältlich ist,[1] allen interessierten Anfängern empfehlen. Es ist schön und eingängig geschrieben, arbeitet mit vielen Bildern und ist tatsächlich von jemandem verfasst, der sich im Gebet übte und dessen Seligsprechungsprozess 2006 eröffnet wurde. Durch die Lektüre dieses Buches wird dem Leser sehr schnell klar, dass es zwischen der Stufe (2) – der Betrachtung – und der Stufe (4) – der Beschauung – eine Zwischenstufe (3) geben muss, auf welche Pater Poulain SJ näher eingehen wird. Es stellt sich aber heraus, dass nicht alle geistlichen Schriftsteller diese dritte Stufe (3) des Gebetes der Einfachheit oder des Gebetes der Ruhe annahmen.
Fangen wir aber von vorne an.
1. Lectio – die Lesung
Die allererste Stufe des christlichen Gebets ist die Lesung (Lectio), bei welcher man einen heiligen, liturgischen Text (a) laut und (b) auf Lateinisch in den früheren Zeiten auch auf Altgriechisch vorliest, natürlich mit der Absicht dadurch zu beten. Wenn man früher im kirchlich-theologischen Rahmen sagte, dass jemand nicht lesen und schreiben kann, so meinte man damit, dass er keine heiligen Sprachen kann, d.h. kein Hebräisch, kein Griechisch und kein Latein. Denn nur diese Sprachen, welche zu unveränderlichen und unveränderbaren sakralen Kunstsprachen mutierten, sie waren die niemals, so wie sie in der Liturgie verwendet wurden die Alltagssprache oder die Sprache der Gosse, nur diese drei wurden zuerst von den Juden, dann vom Christentum der Koiné und schließlich von der lateinischen Kirche des Petrusamtes für würdig erachtet in ihnen Gott anzubeten und zu verehren. Wir sparen uns an dieser Stelle die Polemik oder das Lamento wegen der Einführung der Volkssprachen in der Liturgie. Wir wollen nur feststellen, dass man nicht unbedingt alles Gesagte oder Gehörte verstehen muss, um zu beten oder die heiligenden Früchte des Gebetes zu erfahren.
Der Schreiber dieser Zeilen war dieses Jahr wieder einmal auf Kreta und er besuchte die heilige Liturgie, welche auf Altgriechisch mit kretenischer Aussprache zelebriert wurde und deren Zelebration 3 h lang dauerte. Obwohl er das Altgriechische beherrscht, hat er außer dem Kyrie eleison und ein paar anderen Ausdrücken fast nichts verstanden. Er blieb also ohne die griechische Entsprechung des Schotts drei wunderbare Stunden lang völlig passiv und ohne die berühmte „tätige Anteilnahme“, die in diesem Falle rein innerlich und nicht äußerlich war. Aber schon nach den ersten gesprochenen und später gesungenen Sätzen wusste er: das ist ein zu Gott erhebendes und von Gott her heiligendes Gebet, von welchem er sich wie von einer Woge getragen fühlte. Er wusste, dass vielleicht außer dem Priester keiner der Sänger, welche die verschiedenen Parts dieser Liturgie wirkten, so in etwa wie bei einer stillen Messe der Ministrant der Mitwirkende ist, das Altgriechische kannte oder es ganz verstanden hatte. Das hat aber niemanden gestört. So in etwa müssen sich vor dem Konzil diejenigen Menschen, die kein Latein kannten und wenig von der Liturgie verstanden bei einer Missa cantata oder einer Missa solemnis gefühlt haben. Was übrig blieb und bleibt ist die Erfahrung einer gedrängt-dichten Heiligkeit, eines erhabenen Mysteriums.
Die Lectio soll allen Mönchs- und Ordensregeln gemäß dadurch erfolgen, dass man laut die Psalmen und andere Gebete liest oder singt. Sie ist also nicht, wie die neueren, die nachkonziliaren Autoren angeben, eine intellektuelle Beschäftigung. Denn rezitierte man die 150 Psalmen täglich, so war man intellektuell wirklich ausgelastet und brauchte wohl keine zusätzliche Lektüre. Wenn man sagt, dass man früher wegen der Liturgie in den Klöstern lesen und schreiben lernte, was jedoch nicht alle Mönche oder Nonnen betraf, sondern nur diejenigen, die den Chordienst verrichteten, so meint man damit das Lesen, das Lesen mit Verständnis und das Schreiben auf Lateinisch. Diesem Kriterium zufolge sind wir fast alle Analphabeten. Es hat immer die Zwischenstufe der Mönche, der Ordensbrüder oder der Ordensschwestern gegeben, die zwar auf Lateinisch lesen konnten, aber den gesprochenen Text nicht verstanden. Dies änderte aber nichts daran, dass dies ein Gebet war und, wie es treffend Pater Poulain SJ herausstellt, das Erreichen der Stufe (3) des Gebetes der Einfachheit (Oratio) auch ohne (2) die Stufe der Betrachtung (Meditatio) vielen ermöglichte. Die Lektüre von „Die Fülle der Gnade“ macht uns nochmal deutlich, wie verheerend die letzte Brevierreform und die Ordensreform für die betenden Stände der Kirche gewesen ist, da man durch all diese Veränderungen bestimmte Stufen des Gebetes so gut wie gar nicht erreichen kann. Am Anfang der Kirchengeschichte las man alle 150 Psalmen an einem Tag, später 150 Psalmen in der Woche, seit der letzten Brevierreform braucht man dafür den Vierwochenzyklus, wenn man tatsächlich alle Horen betet, wobei manche Psalmen gar nicht gebetet werden, andere stark zensiert wurden, von der neuen „theologisch-korrekten“ Textfassung der Neo-Vulgata, welche allen volkssprachlichen Übersetzungen zu Grunde liegt und die erheblich von der eigentlichen Vulgata abweicht ganz zu schweigen.
Kurz und gut: die Lectio bedeutet das aufmerksame, andächtige laute Lesen der Psalmen und anderer Texte des Breviers auf Lateinisch (oder wer es kann auf Altgriechisch).
[1] Z. B. hier http://www.amazon.de/Saal-tausend-T%C3%BCren-Briefe-Gebet/dp/3894111038/ref=sr_1_3?s=books&ie=UTF8&qid=1437046330&sr=1-3
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