
Moralisches Unvermögen Nr. 2 – Ehrverlust
Da die Teilnahme an der Messe auch ein gesellschaftliches Ereignis ist, so machte sich die vorkonziliare Kirche als “umsichtige und freundliche Mutter” auch Sorgen um jene Kinder, die beim Kirchgang dem Ehrverlust ausgesetzt werden können.
Was bedeutet das?
Dass Sie etwas so Peinliches gemacht haben (Bankrott, Sextape, den Müll nicht getrennt), da Sie buchstäblich nicht vor die Tür gehen können, um sich nicht dem Gespött und den bösen Blicken auszusetzen. Sind Sie in dieser Lage, so sind Sie von der Sonntagspflicht befreit.
Angst vor Ehrverlust (iactura honoris)
In der Moraltheologie von Bischof Müller lesen wir:
Von der Sonntagspflicht sind diejenige Personen befreit, die nicht über eine angemessene Kleidung verfügen, die ihrem Stand und ihrer sozialen Stellung entsprechen würde. Befreit sind von der Sonntagspflicht ferner unverheiratete schwangere Frauen oder diejenigen verheiratete Frauen, die außerehelich schwanger geworden sind, es sei denn, sie können eine frühe Morgenmesse hören, bevor sich das gläubige Volk versammelt.[1]
Diese Bestimmungen muten wirklich exotisch an, da sie voraussetzen, dass:
- Man eine Sonntagsstaat besitzt.
- Man sich keine anständige Kleidung leisten kann.
- Man sich dessen schämt.
- Eine uneheliche Schwangerschaft bei Ledigen peinlich ist.
- Eine außereheliche Schwangerschaft bei Verheirateten ebenso.

Dennoch sind die Vorschriften nicht exotisch, sondern unsere Kultur geht seit 1960 den Bach runter. Anders gewendet würde es ja bedeutet, dass seitdem 1. bis 4. nicht mehr als peinlich gelten (nr. 5 wohl immer noch), unsere Kirchen an Sonntagen aus allen Nähten platzen sollten, was sie ja leider nicht tun. Der frühere kirchliche Gesetzesgeber sah aber vor, dass der Kirchgang dem Menschen etwas Angenehmes und nicht Peinliches sein sollte. War man so arm, dass man nur eine Arbeitskleidung hatte, die nicht kirchengerecht war, so durfte man zuhause bleiben. Das ist auch der Grund, warum die Unterschichten früher, siehe Stanley Kowalski in „Endstation Sehnsucht“ zuhause in Unterwäsche auftraten. Sie hatte nichts anderes zum Wechseln und das gute Hemd oder die Arbeitskleidung musste für die Arbeit herhalten.
Während Bischof Müller nur Frauen bei fehlender Sonntagsstaat von der Sonntagspflicht freispricht, so entschuldigt Noldin alle, ebenso Ballerini, der noch als Entschuldigungsgrund fehlende Schuhe hinzufügt. [2] Der hl. Alfons von Liguori fügt noch einen Diener und eine Begleiterin bei adeligen Frauen hinzu. [3] Hatte also eine Adelige keinen Diener und keine Begleiterin, um in der Kirchen erscheinen zu können, weil sie zu arm war, so war sie vom Kirchgang entschuldigt, weil der Kirchgang, juristisch ausgedrückt, „eine unbillige Härte“ darstellen würde.

So viel zur nachkonziliaren Laier der PastoralassitentInnen, wonach
„die alten Junggesellen-Priester sich überhaupt nicht in die Lage der Frauen hineinversetzen konnten“.
Sie konnten es wohl und taten es auch. Denn man braucht schon viel Mitgefühl, um sich in die Lage einer Frau hineinzuversetzen, die nichts anzuziehen hat, sich dessen schämt und nicht aus dem Hause gehen will. Seufz! Wahrscheinlich zählt hier das subjektive Schamgefühl mehr als die objektive Angemessenheit der Kleidung, die ja den meisten Männern gleich ist.
Interessanterweise überlegten die vorkonziliaren Moralisten die Frage, ob ein Mädchen, das weiß, dass es von jemandem “auf unangebrachte Weise (perdite amaretur) geliebt” wird, von der Sonntagspflicht befreit sei, so ihre bloße Anwesenheit ihren Verehrer zur Sünde treibt.[5] Ja, die Leidenschaften eines Südländers, der keinem deutschen, österreichischen oder Südtiroler Kaninchenzuchtverein angehört, können groß und verheerend sein. In diesem Falle sind die Moraltheologen der Meinung, dass das Mädchen zwei oder dreimal die Sonntagsmesse ausfallen lassen kann, sie aber nicht dazu verpflichtet ist, da die Fremdsünde dieses Mannes nicht ihre Angelegenheit ist. Der hl. Alfons argumentiert, dass das Gebot des Naturrechts das Ärgernis zu meiden in diesem und in anderen Fällen höher wiegt, als die positive Anordnung des Kirchenrechts, die Messe zu hören.[6]
[1] Müller, 224.
[2] Ballerini, 561.
[3] Liguori, Nr. 330, Nr. 8, 541.
[4] Liguori, 542.
[5] Liguori, Nr. 331, 542; Ballerini, 560.
[6] Liguori, Nr. 331, 542.

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